Am Mittwoch – 22. August um 4.30 – klingelt mein Wecker, denn um 5.24 fährt mein Bus zum Bahnhof. Am Abend davor war noch Streichquartett bei uns und hinterher ’Wein und Brot’ auf der Terrasse. In diesem Jahr auch für unsere anderen Spielabende – Ma Jong und Doppelkopf – das perfekte Ambiente. In diesem Jahr werden wir verwöhnt. Schade, dass man das nicht nur als schönen heißen Sommer ’wie früher immer’ (?) interpretieren darf.
Ich bin schon um 12.30 Uhr in Straßburg im Hotel ’Cap Europe’- 900 Zimmer, 3 Sterne, viel Jugend. Anfahrt, Kongresskosten müssen wir selber tragen und zum Hotel gibt es einen kleinen Zuschuss von den ’Europäischen Grünen’ in Brüssel. Am dritten Tag erfahre ich, wer oder was sich hinter dem Begriff ’Europäische Grüne’ zusammenfindet.
Das Hotel ist ok. Ich entscheide für mich, dass ich bei diesem Ausflug wunderbar testen kann, wie anpassungsfähig ich noch bin. Nach der ersten Nacht fallen mir morgens die Übungen zum Zurechtrücken der Wirbelsäule von Anka – Physiotherapeutin – ein: liegend Kopf zur einen Seite und die angewinkelten Beine entspannt zur anderen Seite fallen lassen und dem Rücken Zeit zur Entspannung lassen. Funktioniert!
Beim Verlassen meines Zimmers hantieren zwei Leute an der Tür nebenan. Ich hatte angenommen, dass wir deutschen Grünen nebeneinander die Zimmer bewohnen und grüße in Deutsch. Die Antwort kommt auf Französisch und ich habe Jaques kennengelernt. Er spricht ein wenig Deutsch, hat keinen Zuschuss bekommen und frühstückt deswegen für 2 € auf dem Kongressterrain, dem Centre Culturel St. Thomas. Im Europaviertel in Strasbourg, der Hauptstadt Europas, steht ein futuristisches Riesengebäude neben dem anderen. Hier trifft sich ja unser Parlament, hier sitzt der Europäische Gerichtshof, die letzte Instanz in Fragen des Rechts.
Mit der Tram, einer wundervollen Straßenbahn – geräumig, schnell, läuft zukunftsträchtig auf Schienen – kann ich glücklicherweise mit Jaques bis zur Tagungsstätte fahren. Diese Gelegenheit hatte ich fest eingerechnet. Allein habe ich mit Stadtplan am ersten Tag an meinem langen freien Nachmittag nur die Innenstadt, die mittelalterliche Altstadt und einige Läden zu erkunden geschafft: es war so heiß, dass ich für die beiden ersten Tage noch ein Bluse und ein T-Shirt kaufen musste. Zu schön, solche Zwänge!
Auf dem Gelände, St. Thomas scheint ehemals ein Kloster gewesen zu sein. Unsere frugalen Mahlzeiten – repas frugal = einfaches Essen – werden dort gekocht. Der Mythos von phänomenaler französischer Kochkunst – auch vegetarischer Kochkunst – stellt sich als ’wishful thinking’ meinerseits heraus. So ist das Schönste an den Mahlzeiten der runde Tische mit acht Plätzen: wir lernen uns ungestört durch zu gutes Essen, alle angeregt unterhaltend kennen. Ich kann trotz des Lärmpegels meine Tischgenossen gut verstehen.
Ich treffe bei diesem ’rencontre’ so viele sympathische, aufgeschlossene, interessierte, weltoffene Menschen! Ich fühle mich während der ganzen Zeit wohl. Meine Kennenlern-Offensive geht übrigens immer so: „Est-ce qu’est tu est Français?“ (Bist du Französisch?) – „Mais bien sûr!“( Ja klar!) – „Je demande parce-que il y a aussi quelques Allemands ici et moi je suis Allemande et je veux bien faire des conaissance avec des Français!“ (Ich frage, weil auch Deutsche hier sind und ich bin Deutsche und möchte Franzosen kennen lernen.) Lachen und spontanes Vorstellen.
Zwei Tage vor der Reise war die LAG Europa beim französischen Konsul in Hamburg im Institut Français eingeladen. Mich hat seine Mitteilung aufmerken lassen, dass Europa unter anderem in Gefahr ist, weil sich immer weniger Franzosen und Deutsche persönlich treffen und miteinander reden. Das hat mich berührt! Der Traum von Europa kann als Gedanke nur durch uns Menschen lebendig aufsteigen und sich verwirklichen. Darum habe ich mir schon im Zug nach Frankreich vorgenommen, meine Visitenkarten Französinnen und Franzosen zu geben, die ich sympathisch finde und ihnen zu sagen, dass ich ein Treffen mit Franzosen für nächstes Jahr in Hamburg organisieren möchte. Und zwar mit Privatleuten. Einige Franzosen sprechen Deutsch. Wer dies liest und Interesse hat Franzosen zu treffen, kann mir gern unten einen Kommentar schreiben. Übrigens haben mir heute André aus der Bretagne und Christine aus der Auvergne, nahe zur Schweizer Grenze, bereits gemailt.
Ach ja: eine große Überraschung war die Altersstruktur. Ich dachte, ich bin da zwischen lauter jungen Leuten und falle etwas ’raus und auf. Aber weit gefehlt! Viele sind pensioniert, gehören mit zu den Gründern der Partei und sind nach wie vor politisch aktiv. Am letzten Tag sitze ich neben einem pensionierten Förster. Er gibt mir seine Karte, lädt mich seinerseits nach Frankreich ein. Am nächsten Tag im Bus zum Bahnhof treffe ich ihn wieder. Seine Frau lädt mich noch einmal ein, es gebe ein Gästezimmer und ich sei, natürlich mit meinem Mann, herzlich willkommen. Nach Hamburg zu kommen halten beide für eine gute Idee.
Jetzt habe ich noch gar nichts über die Workshops, die Ateliers gesagt. Ich kann immer gedanklich gut folgen, wenn die Vortragenden fein deutlich oder mit Pausen sprechen, aber – helas – oft sind sie so vom Thema beseelt, dass ’der Mund überfließt wes das Herz voll ist’.
Das Frauenthema kommt voll zu seinem Recht, oft wieder aus gedrängt vollem Herzen. Ein völlig neues Wort lerne ich dort. Die dringend notwendigen Frauenhäuser werden erst gegründet, nachdem eine Frau ’se défenestrée’ hat. In Deutsch: sich ge- oder entfenstert hat, korrekt ’sich aus dem Fenster gestürzt hat’. Komisch, dass wir das Wort ’fensterln’ haben und das meint das glatte Gegenteil von dem verzweifelten Sprung der Frau aus dem Fenster aus Angst vor dem Partner. Das Wort ’elle s’est défenestrée’ hat mich in seiner Kürze den ganzen Film ihrer Verzweiflung sehen lassen.
Ein weiteres Wort war der Name einer Gruppe, die bis heute erfolgreich mit Flüchtlingen arbeitet. Klar ist für alle Grüne, dass jedem Menschen auf der Flucht geholfen werden muss. Fraglos auf jeden Fall das reine Überleben! Der Bericht einer engagierten Frau macht großen Eindruck wegen des sympathischen Namens: voisins-d-ailleurs = Nachbarn von anderswo, weitere Nachbarn, übrigens Nachbarn. Dieser Begriff ist warm, herzlich, umfasst ein ganzes wohlwollendes Gedankenspektrum und Taten beginnen in Gedanken.
Sven Giegold (guter Mann!) – der EU-Abgeordnete der deutschen Grünen – war auch da und hat einen guten Vortrag in vorzüglich verständlichem perfekten Französisch gehalten. Es ging um Finanzkapitalismus, den manche in manchen Ateliers am liebsten den Garaus gemacht hätten. Sven vertraut absoluten Neuanfängen nicht, deren notgedrungene Anfangsfehler sollte man vermeiden und lieber mit Institutionen arbeiten, die gewünschten Resultaten bereits entgegenkommen. So plädiert er dafür, eigenes Geld bei Genossenschaftsbanken (beispielsweise GLS) zu lassen, denn die investieren in menschenfreundliche Projekte. Auch Sparkassen sind seiner Meinung nach empfehlenswert, denn die agieren für lokale Projekte. Alles aus grüner Sicht gut. Ich erfahre – wenn ich recht verstanden habe – dass es diese Institutionen in Frankreich nicht gibt.
Der dritte Tag war sprachlich eine Erleichterung, weil alles ins Englische übersetzt wurde. Diesen Tag hatten die European Greens organisiert, die Mitveranstalter des gesamten Treffens waren.
Ich habe erfahren, dass man die European Greens nicht wählen kann, sondern diese Gruppe im Europäischen Parlament das Dach aller Grünen Europas ist. Ihre Macht im Parlament füttert sich aus den jeweiligen Wahlen im Heimatland. Also: immer schön möglichst GRÜN wählen, gell?
Am letzten Tag frühstücke ich mit der Jüngsten des Kongresses. Das ist Stefanie aus einem kleinen Ort südlich von München. Sie ist ganze 16 Jahre! Da sie Deutsche ist, frage ich sie erst für diesen letzten Tag, ob wir den freien Vormittag in Straßburg gemeinsam verbringen sollen. Ja.
Die Rückfahrt läuft nicht planmäßig: ich komme erst eine Stunde später in Hamburg an. Allerdings muss ich sagen, dass das Bahnpersonal entzückend ist. In Straßburg auf dem Bahnhof kommt der TGV Paris – Basel mit 20 Minuten Verspätung auf dem falschen Gleis an. Ich kann meine 1. Klasse Wagen nicht selber nachsehen. Ich frage in eine aufgeregt diskutierende Runde von Dienstmännern. Ziehe mich unverrichteter Dinge schnell wieder zurück. Als die Gruppe sich auflöst, schaut einer herum, entdeckt mich, ich schaue ihn an, er ruft laut in meine Richtung: „Pour vous c’est S!“ Also Abschnitt S. Ich bin entzückt und rufe: „C’est très gentil. Merci, merci!“ Das ist nett/lieb. Danke. Plötzlich ruft ein anderer Dienstmann belustigt: „Normalment il est très méchant!“ Normalerweise ist er sehr böse/hämisch/mies/bissig. Wir lachen alle drei und winken fröhlich.
In Karlsruhe ist mein Zug natürlich leider weg, ich kriege den guten Rat, nach Mannheim zu fahren. Froh im Zug zu sein bestelle ich – mich entspannen wollend (!) – Kaffee. Die deutsche Kontrolleurin kommt. Wie komme ich denn nun weiter? In Frankfurt aussteigen und dann den Zug nach Hamburg nehmen. In 15 Minuten sind wir schon in Frankfurt. O Schreck! „Und mein Kaffee? Ich wusste nicht, dass es so schnell geht.“ „Ach, das macht nichts. Möchten Sie denn den bestellten Kaffee haben?“ Ich bejahe vehement. „Ok“, sagt sie, „dann bestelle ich Ihnen den jetzt um in einen Kaffee to go.“ Wie eine fürsorgliche Mutter läuft sie den weiten Weg zum Bordrestaurant und bestellt mir einen schnellen Kaffee to go. Wie entzückend ist das denn? Ich bin hingerissen und finde meine späte Rückankunft in dem wunderschönen Hamburg um fast 23 Uhr gar nicht mehr schlimm. So ist mein Leben um fünf wunderschöne Tage reicher! Danke!